Die beste Wirtin der Schweiz

Von Hannes Nussbaumer. Aktualisiert am 24.12.2009

Marlies Schoch

18.11.1940 – 23.04.2016

Seit bald vierzig Jahren wirtet Marlies Schoch auf der Hundwiler Höhe in Appenzell Ausserrhoden. Doch ihr Haus ist viel mehr als eine Beiz: nämlich eine Art Ideal-Schweiz im Kleinformat. Und das auf 1309 Metern über Meer.

Am liebsten mag sie es, wenn es «wie in einer Familie» zu und her geht: Marlies Schoch wird auch an Heiligabend die Türen ihrer Beiz offen halten.
Bild: Doris Fanconi


Es gab Zeiten, da war die Schweiz umgeben von Freunden. Inzwischen ist nichts mehr, wie es einst war. Deutschland, Italien und Frankreich, ausserdem die arabische Welt, ganz zu schweigen vom Spezialfall Libyen – alle sind mehr oder minder aufgebracht. Wohl sind die Gründe verschieden, auch verschieden gut – doch das ändert nichts am Grundproblem: Unser Ruf in der Welt ist ramponiert.

So stellt sich am Ende eines unerfreulichen Jahres die Frage: Wie kommen wir da wieder raus? Wie kommen wir zurück zum alten, guten Ruf? Wir fragten eine, die es wissen muss. Eine, in deren Haus seit bald vierzig Jahren die Welt ein und aus geht. Eine, die weiss, wie man mit Land und Leuten umgeht. Eine, die Aussenpolitik im Kleinformat betreibt: das eigene Haus in Schuss hält und gleichzeitig offen ist für die Welt. Willkommen bei der besten Wirtin der Schweiz.

Ein helvetischer Mikrokosmos

Den Besuch bei Marlies Schoch gibt es nicht umsonst. Es gibt ihn nicht ohne Schweiss, nicht ohne Fussmarsch den steilen Alphang hinauf – vom nächstgelegenen Parkplatz dauert er fünfzig Minuten. Manche mögen darob fluchen, sofern sie vor lauter Keuchen noch dazu kommen. Doch oben angekommen, geht es allen gleich: Wer auf der Hundwiler Höhe steht, auf 1309 Metern über Meer, der möchte nicht mehr weg.

Erstens der Lage wegen. Gegen Norden erstrecken sich die Hügel des Appenzellerlands, in der Ferne liegt der Bodensee und dahinter die Europäische Union. Im Süden erhebt sich die Alpsteinkette. Im Westen reicht der Blick bei sichtigen Verhältnissen bis zu den Berner Alpen. Wer auf der Höhe steht, ist erhaben.

Wie im Heimatfilm

Zweitens lassen einen die Beiz und ihre Chefin nicht mehr los. Gäbe es Marlies Schochs Restaurant nicht in seiner stolzen, fassbaren Präsenz – man würde es als Erfindung eines Heimat-Schmachtfilms abtun. Eine urgemütliche Gaststube mit Kachelofen und Holztischen. In der Mitte sitzt die Wirtin, vom NZZ-Folio unlängst zur «Landesmutter» geadelt. So falsch ist die Bezeichnung nicht. Schochs Restaurant ist so etwas wie ein helvetischer Mikrokosmos im Idealformat. Und die Chefin dessen unbestrittenes Epizentrum.

Gefällt ihr der «Landesmutter»-Titel? Die Augen im runden Gesicht blitzen lustig auf. «Ich denke nicht ewigs nach über solche Sachen. Ich habe die Leute gern und nehme jeden so, wie er ist. Das tut eine Mutter auch. Zwar mahnt und schimpft sie zwischendurch. Doch an der Liebe ändert das nichts – auch dann nicht, wenn die Mahnung verpufft.»

Alle sind gleich

Idealformat hat der Höhi-Kosmos, weil hier gilt, was sonst nur in der Theorie eine Eigenschaft der eidgenössischen Direktdemokratie ist. Nämlich die republikanische Regel: Alle sind gleich. Bei Marlies Schoch verkehren Bundesräte und Sozialfälle, Wirtschaftsführer und Asylsuchende. Für alle ist sie da, allen hört sie zu. Denen unten hilft sie auf die Beine; die oben holt sie vom hohen Ross. Und das 365 Tage im Jahr, und wenn es sein muss 24 Stunden am Tag. Wenn jemand kommt und etwas braucht – Marlies Schoch ist da.

Sie erzählt, wie vor einigen Tagen jemand mitten in der Nacht am Fensterladen rüttelte. Er habe Durst, ob er ein Bier bekomme. Natürlich bekam er es. Oder wie einer stundenlang neben dem Restaurant auf dem Boden kauerte und sich kaum bewegte, bis sie ihn ansprach. Er hatte Hunger und Durst, aber kein Geld. Sie lud ihn ein und erfuhr: Vor zehn Tagen war er aus dem Berner Gefängnis Thorberg ausgebrochen und seither quer durch die Schweiz gehetzt. Lange sprachen sie, der Ausbrecher und die Wirtin. Sie empfahl ihm, sich zu stellen. Am Ende war er einverstanden, dass sie die Polizei anrief. Sie versprach ihm: Sollte er es sich anders überlegen, bräuchte er nur die Hand zu heben; sie würde dann den Telefonhörer sofort einhängen. Er hob die Hand nicht und ging auch während der Stunde nicht, die es dauerte, bis die Polizisten auf der Höhe anlangten.

Die Hundwiler Höhe als Klein-Schweiz, an deren Wesen die Gross-Schweiz genesen könnte? Fest steht: Auf der Höhe steht ein offenes Haus mit einer Chefin, für die das Leisten guter Dienste nicht Floskel, sondern Selbstverständlichkeit ist.

Prominenter Besuch

Trotzdem ist ihr Haus nicht einfach eine Sozialhilfestelle. Es ist eine Wirtschaft, die rentieren muss. Mit dem Ergebnis, dass hier ein Publikum ein und aus geht, das verschiedener nicht sein könnte. Einerseits: schlichte Ausflügler, wandernde Professoren, Politiker aller Parteien, in den Siebzigerjahren tauchte eines Tages Bundesrat Gnägi auf. Immer wieder kam Kurt Furgler vorbei. Auch Arnold Koller und Hans-Rudolf Merz sind gelegentliche Gäste. Andererseits: Männer, deren Frauen sich verabschiedet haben, Frauen mit Kindern, aber ohne Mann, Menschen mit Sorgen aller Gattung. Sie alle kommen zu Marlies Schoch.

Auch an Heiligabend wird sie, selbst kinderlos, die Türe offen halten. Sie wird etwas kochen. Sie wird eine gute Flasche Wein öffnen. Vielleicht melden sich Gäste an; vielleicht kommt jemand spontan. Die Wirtin weiss es nicht. Doch sie ist da.

Mit Naegeli auf der Höhe

Was ist es, das Marlies Schoch zum Magneten macht? Sie antwortet: «Ich habe keine Ahnung, weshalb alle kommen.» Dann hat sie doch eine Vermutung: «Vielleicht, weil ich ihnen zuhöre.» Sie denkt nach: «Ja, zuhören – ich glaube, das kann ich.» Hinzu kommt: Die Wirtin hat weder Attitüde und Duktus einer Sozialarbeiterin, noch ist sie Ideologin. Sie ist Pragmatikerin durch und durch. Und sie vertraut auf den gesunden Menschenverstand.

Typisch, findet sie. Typisch für eine Ausserrhoderin. Typisch für eine, die in der Kleinheit gross geworden ist und es nach wie vor gern übersichtlich hat. Marlies Schoch mag keine grossen Theorien. Sie hat es gern handfest. «Wenn man etwas anpacken kann und dann sieht, wie Bewegung entsteht – das gefällt mir.» Marlies Schoch kam vor 69 Jahren in Herisau zur Welt; seit 1971 wirtet sie ganzjährig auf der Hundwiler Höhe. Zuvor war die Beiz (damals noch im Besitz ihrer Eltern) nur in den Sommermonaten geöffnet – bis Tochter Marlies und ein paar Bekannte, darunter der spätere Sprayer von Zürich, Harald Naegeli, beschlossen, versuchsweise auch den Winter auf der Höhe zu verbringen. Naegeli habe sehr strukturiert gelebt, habe entweder Schach gespielt, gemalt, auf der Gitarre gezupft oder gelesen. «Irgendwann sagte ich ihm allerdings: Ich bin hier nicht der Lappi und arbeite den ganzen Tag, während du herumhockst. Von da an half er mit.»

Mit roten Wangen

Klar, kurz, einfach und verbindlich: So hat sie es gern. Man könnte daraus schliessen, Marlies Schoch selbst sei eine Einfache, «en Äfachi», wie man hier sagt. Es wäre ein Fehlschluss – ein Fehlschluss allerdings, der durchaus ins Bild passt, wenn man die Hundwiler Höhe als Miniaturausgabe einer Ideal-Schweiz sehen will. Der Hang zu Bescheidenheit und Zurückhaltung sowie die Einstellung, lieber unter- als überschätzt zu werden – sie gehören zu Marlies Schoch wie ihre roten Wangen. Und sie sind gleichzeitig sehr schweizerische Eigenschaften, die allerdings auch schon höher im Kurs waren.

Marlies Schoch hat viel erlebt. Sie hat in Neuenburg die Handelsschule besucht. Sie war Lehrerin in einem St. Galler Bergtal. Sie half in den USA ein Lager für jüdische Kinder aus New York und New Jersey leiten. Sie lebte nach dem Erdbeben in Agadir 1960 ein Jahr lang in Marokko und engagierte sich beim Wiederaufbau.

Auch nachdem sie sich auf der Hundwiler Höhe niedergelassen hatte, war sie nie bloss Wirtin. Ihr Interesse reicht weit. Jahr für Jahr geht sie ans Filmfestival nach Locarno. Dort schaut sie sich von früh bis spät Filme an. Ihre Äuglein beginnen zu leuchten, und sie sagt versonnen, mehr zu sich selbst als zu ihrem Gegenüber: «Wenn ich in Locarno bin, bin ich immer überglücklich.»

Das Wir-Gefühl

Ausserdem ist Marlies Schoch Mitglied des Gemeinderats von Hundwil und dort zuständig fürs Soziale sowie Vizegemeindepräsidentin. Sie ist seit vielen Jahren parteiloses Mitglied im Ausserrhoder Kantonsparlament. Und sie engagiert sich im Komitee, das für die Wiedereinführung der 1997 abgeschafften Ausserrhoder Landsgemeinde kämpft.

Die Landsgemeinde: «Das war der Tag, an dem alle zusammenkamen, von Heiden bis Urnäsch», sagt Marlies Schoch. Gemeinsam habe man gebetet, das Landsgemeindelied gesungen und schliesslich Politik gemacht. «Das gab ein unheimliches Zusammengehörigkeitsgefühl.» Ein Gefühl, so wertvoll, dass es sich lohne, für seine Wiedergeburt zu kämpfen.

Wenn Marlies Schoch spricht, spricht sie oft vom «Wir-Gefühl». Nicht nur, wenn es um die Landsgemeinde geht. Auch wenn sie über ihre Beiz redet. Oder von ihrem Halbkanton erzählt. Oder von Appenzell insgesamt. Am liebsten mag sie es, wenn es «wie in einer Familie» zu und her geht. Wenn man wohl zankt und streitet – oder wie sie sagt: «chöglet» – und doch immer sonnenklar ist: Man gehört zusammen und schaut füreinander.

Im Himmelreich

So ist sie, deren Beiz nur ein paar Schritte von der Grenze zu Appenzell Innerrhoden entfernt liegt, auch – ganz Landesmutter! – so etwas wie die Instanz, welche die entzweiten Appenzeller Familienteile verbindet. Den Einkauf für ihr Restaurant besorgt sie teils auf der Ausser-, teils auf der Innerrhoder Seite. Auch die Gäste steigen von beiden Seiten her zu ihr hoch.

Vor dem Fenster fällt der Schnee. Drinnen macht man sich bereit für den Abmarsch. Zum Abschied erzählt Marlies Schoch: Bevor sich die beiden Appenzeller Teile 1597 in zwei Halbkantone spalteten, habe der Fleck, auf dem heute ihr Restaurant steht, «Himmelreich» geheissen. Nach der Teilung hätten die Innerrhoder das Himmelreich verschoben, so dass es auf ihr Territorium zu liegen kam. Die Ausserrhoder ersetzten den verlorenen Namen mit dem prosaischen Hundwiler Höhe. «Kürzlich hat mir jemand erzählt, das Kloster Appenzell habe damals alle bösen Geister hier hinaufgeschickt.» Marlies Schoch lacht laut. «Die haben nicht mit mir gerechnet. Ich hab die Geister gleich wieder fortgeschickt.»